Die dunkle Kammer
Ich kam eher zufällig zur Fotografie – genauso wie zu den meisten Begegnungen, die in meinem Leben bedeutsam wurden. Weder ein besonders prägendes Ereignis noch eine kreative Einsicht hat mich zur Fotografie gebracht, sondern die Fotoausrüstung meines Vaters: mehrere alte Kisten aus DDR-Zeiten, vollgestopft mit Negativen und selbstentwickelten Fotografien sowie einer vollständigen Dunkelkammer-Ausrüstung. Sie weckte meine Neugier und hat mich dazu inspiriert, mich intensiver mit den technischen und künstlerischen Aspekten dieses Mediums zu befassen. Der zündende Funke zur Fotografie sprang 2003 über, als ich zu Weihnachten meine erste Spiegelreflexkamera von meiner Mutter geschenkt bekam. In unserem zu einer Dunkelkammer umfunktionierten Bad entwickelte ich die damit belichteten Schwarz-Weiß-Filme und fertigte meine ersten Papierabzüge an. Aber anfangs war es weniger das Bildermachen selbst, das mich faszinierte, sondern die eher handwerkliche, experimentelle Arbeit in der Dunkelkammer. Die Tatsache, dass ich mit eigener Hände Arbeit etwas so Vielschichtiges und Komplexes wie eine Fotografie erschaffen kann, war etwas für mich völlig Neues. Dabei brachte mir niemand bei, wie ich das anzustellen hatte, sondern ich eignete mir das dafür relevante Wissen und sämtliche Handgriffe autodidaktisch an.
So verbrachte ich Nacht für Nacht in diesem kleinen, dunklen Raum von gerade einmal sechs Quadratmetern. Für viele Stunden würde ich den beißenden Geruch giftiger Chemikalien einatmen, auf Knien das Vergrößerungsgerät bedienen, das auf dem Klo stand und die Keramikbeschichtung der Badewanne durch ätzende Flüssigkeiten beschädigen, während ich die Papierabzüge wusch. Manchmal schien sich in der Einsamkeit dieser beengenden Dunkelheit die Zeit geradezu aufzulösen und ich öffnete erst in den frühen Morgenstunden wieder die Badezimmertür. Natürlich musste ich dann alle Kleberest entfernen, mit denen sämtliche Ritzen und Spalten zugeklebt wurden, um den Raum lichtdicht zu machen. Das mit Abstand prägendste Erlebnis jener Nächte war die Belichtung meines ersten Bildes. Nie werde ich vergessen, wie die ersten feinen Linien auf dem lichtempfindlichem Papier aufscheinen, langsam sichtbar werdend in der Entwicklerflüssigkeit, als ob das Bild sich von selbst erschafft, aus dem Nichts heraus. Ich erinnere mich an mein fast kindliches Staunen und die einsetzende Euphorie, als sich langsam Formen und Gegenstände herausschälten, die ich zuvor nur erahnt hatte. Erst durch dieses Erlebnis begriff ich, was „mit Licht zeichnen“ (gr. photós gráphein) wirklich heißt. Nicht als sprachliche Wendung, sondern als Erfahrung, die buchstäblich sichtbar wird. Von da an, begann ich die Welt neu zu sehen und nahm meine Umgebung aus einer für mich noch ungewohnten Sichtweise wahr: Wie sähe dieses oder jenes als Fotografie aus?
Innere Bilder
Ohne es zu wollen, begann ich, Situationen um mich herum als innere Bilder wahrzunehmen – ob mit Kamera oder ohne. Oft sah ich das fertige Foto bereits vor meinem inneren Auge. Dieses Phänomen begleitet mich bis heute: In bestimmten Augenblicken und Situationen überkommt mich ein starker visueller Eindruck und ich nehme Menschen, Räume oder Begegnungen oftmals bereits in möglichen Bildern wahr. Während meines Philosophiestudiums begegnete mir zum ersten Mal der Begriff der Einbildungskraft. Als Teil der sogenannten philosophischen Erkenntnistheorie begann ich, mich für grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von erkennendem Subjekt und Welt zu interessieren. In meiner fotografischen Arbeit wurde mir erst wirklich bewusst, wie sehr diese Fähigkeit uns Dinge vorzustellen (welche z.B. gar nicht tatsächlich vorhanden sind) unser Verständnis von Realität formt.
Obwohl ich keinen festen philosophischen Standpunkt dazu vertrete, komme ich immer wieder zu dem Gedanken zurück, dass unsere Auffassung von Wirklichkeit zuallererst in unserer Vorstellung entsteht und sich anschließend durch unser Wollen und Handeln in der sogenannten „Außenwelt“ manifestiert. Doch sprechen wir meistens erst dann von Realität, oder Wirklichkeit, wenn wir uns auf diese „Außenwelt“ beziehen. Aber ist diese außerhalb unseres eigenen physischen Körpers befindliche Welt, nicht in erster Linie Teil unseres eigenen Bewusstseins? Und ist dieses unser Bewusstsein nicht durch allgemeinere, kollektive Strukturen geprägt, welche mir oftmals gar nicht bewusst sind, von denen ich aber stillschweigend ausgehe? Und sind diese allgemeinen Strukturen nicht Ergebnis eines sich unendlich wandelnden historischen Prozesses der Menschwerdung? Ist diese „Außenwelt“ deshalb nicht eigentlich (zumindest ebenso) eine „Innenwelt“, in der ich das gesammelte kollektive Gedächtnis der Menschheit erkennen kann (wenn ich es denn so will)? Erkenne ich also nicht vielmehr mich selbst, oder zumindest die historischen Bedingungen meiner Selbstwerdung, wenn ich „nach draußen“ Blicke? Sind meine Fotografien vielleicht auch Zeugnisse dessen, was es heutzutage heißt, ein Mensch zu sein und eine bestimmte Weltanschauung zu haben?
Digital und in Farbe
Mit dem Aufkommen neuartiger digitaler Möglichkeiten endete meine Zeit in der Dunkelkammer. 2009 kaufte ich meine erste digitale Spiegelreflexkamera und begann, in Farbe zu arbeiten. Das Digitale erschloss mir aber nicht bloß die Farbfotografie (was für sich genommen bereits ein immenser Gewinn war), sondern reduzierte den beträchtlichen finanziellen Aufwand, den analoge Fotografie damals mit sich brachte. Der Weg zum fertigen Foto bedeutete gleich an mehreren Stellen Kosten: angefangen beim Film (36 Bilder Kleinbild, oder 12-16 Bilder Mittelformat), über Materialien für Fotopapier und Chemikalien, hin zu laufenden Kosten der Dunkelkammerausrüstung. Wie musste ich mich zu analogen Zeiten zusammenreißen, nicht gleich alles auf einmal zu knipsen, sondern geduldig auf weitere Möglichkeiten zu warten (die da kommen könnten). Dies führte natürlich dazu, dass ich während des Fotografierens bewusst und aufmerksam vorging, um nur ja nicht meine vorhandenen Film zu verschwenden (bevor vielleicht etwas sehr Interessantes passierte).
Durch Photoshop und Co. war ich in der Lage die angefertigten RAW-Dateien umfassend zu bearbeiten. Früher bedeutete das, lange Stunden mit Abwedeln und Nachbelichten in der Dunkelkammer zu verbringen, kleine Masken auszuschneiden und immer wieder zu probieren und korrigieren, bis schlussendlich das Ergebnis meinen Ansprüchen (mehr oder weniger) genügte. Doch nicht nur das viel weg, auch das Zeigen der Arbeiten war eine eigene Welt für sich. Denn nachdem man die Bilder mühselig angefertigt hatte, wie sollte man sie unter die Leute bringen? Man ging z.B. in ein Fotofachgeschäft und ließ die Negative (oder bereits vorhandene Abzüge) mit hochauflösenden Scannern digitalisieren. Erst dann konnte man sie auf der eigenen Website verwenden, in Foren oder auf flickr, tumblr, Instagram und Co.
Warum überhaupt noch fotografieren?
Heutzutage, in Zeiten von immer besser werdenden Smartphone-Kameras, wird vieles ausschließlich mit dem Handy gemacht, wofür man früher etliche (analoge) Zwischenschritte einbauen musste, um die Bilder einem bestimmten Publikum präsentieren zu können. Doch die dabei entstehende digitale Bilderflut (von KI erst gar nicht zu sprechen!) erschafft auch eine Art mentaler und ästhetischer Erschöpfung: vieles von dem, was man auf diversen Website, Instagram und Co. sieht, ähnelt sich nicht bloß. Die verwendeten Foto-Filter (siehe Instagram), welche bereits beim Fotografieren tätig werden, die ubiquitär verbreiteten ästhetischen Konventionen, lassen die Vielfalt menschlicher Wahrnehmung und Perspektiven auf algorithmisierbarbare und damit vergleichbare optische Produkte zusammenschrumpfen.
Manchmal wünsche ich mir die Zeit der analogen Fotografie zurück, wo man noch hoffen musste, bevor man das fertig entwickelte Negativ in den Händen hielt, wo es noch Zeit und Geduld bedurfte, bevor man eine Fotografie präsentieren konnte. Ja, am meisten fehlt mir Zeit und Geduld, in der Ära einer massenmedialen Aufmerksamkeitsökonomie, wo man auf dem Smartphone nur noch ein Bild nach dem anderen in eine Art digitales Nirvana wegwischt. Am Ende entsteht dadurch eine ästhetische Gleichgültigkeit und, da wir Menschen durch und durch sinnliche Wesen sind, auch eine spürbare innere Leere. Es gibt nichts mehr zu entdecken, da alles (augenscheinlich) bereits millionenfach gesehen wurde. Die Sintflut an Bildern kann somit dem eigenen Schaffensdrang hinderlich werden und demotivierend wirken: warum soll ich noch etwas schaffen, wenn doch alles nur für den Bruchteil einer Sekunde Aufmerksamkeit erhält? Warum noch etwas zeigen, wenn sich doch alles ähnelt und durch allmächtige Algorithmen und KI so lange geformt wird, bis alles zu einer glatten, kitschigen Oberfläche zusammengeschmolzen wird, die keinerlei Reibung und (politischen) Widerstand mehr zulässt?
Ich möchte diesem gegenwärtigen Zeitgeist eine andere Art des Sehens entgegenhalten, die ich natürlich nicht selber erfunden, sondern vielmehr für mich wiederentdeckt habe. Die Art des Sehens, welche mich dazu inspiriert, trotz allem weiterzumachen, ähnelt eher der Meditation und Kontemplation als dem Drang nach immer mehr Aufmerksamkeit. Natürlich stellt auch diese Website den Versuch dar, Aufmerksamkeit und Resonanz zu finden, sonst würde ich nichts von meinen Bildern und Gedanken veröffentlichen. Aber es geht mir nicht um oberflächliche Herzchen, oder Daumen-nach-oben, von irgendwelchen anonymen Follwer*innen, damit ich davon möglicherweise finanziell profitiere.
Es geht mir darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen man sich innerlich zurücklehnen und dem ständigen Drang der polarisierenden Algorithmen entziehen kann, um eine innere Offenheit zurückzuerlangen, für die Vielfalt und Schönheit unserer Welt. Es geht mir um das Entdecken einer inneren Haltung der Freiheit und Gelassenheit, die wir alle so dringend benötigen, um dem täglichen Leid und Elend unserer Welt begegnen zu können, ohne daran zu verzweifeln.
Fotografie bleibt für mich der Versuch, dieser Welt mit aufmerksamer Wahrnehmung zu begegnen – und dabei trotz allem, frei zu werden.